Im Interview mit FKM knowhow erklärt Prof. Dr. Manfred Kirchgeorg von der HHL Leipzig Graduate School of Management, warum persönliches, emotionales und multisensuales Erleben (auf Messen) in Zeiten der Digitalisierung immer wichtiger wird. Der international renommierte Wissenschaftler unterstreicht auch die Vergleichbarkeit und Zuverlässigkeit von Messedaten, fordert aber eine schnellere Verfügbarkeit der Planungsdaten für das Marketing.
Herr Prof. Kirchgeorg, beim Einsatz von Online-Marketing ist prinzipiell jede Nutzung messbar. Steigen damit auch die Anforderungen der Wirtschaft an die Messbarkeit anderer Instrumente wie beispielsweise Messen?
Ja, wir beobachten, dass die Echtzeitmessung von Verhaltensdaten einer Customer-Online-Journey auch die Anforderungen an die Messbarkeit anderer Instrumente erhöht. Dies gilt insbesondere für die digitalen Player, die aus der Welt der onlinegenerierten Echtzeitdaten kommen und bei denen meist Statistiker und Mathematiker mit der Optimierung der Werbeetat-Strukturierung betraut sind. Sie folgen dem Grundsatz: Was nicht gemessen werden kann, wird auch nicht gemacht! Allerdings nimmt der Wettbewerb in den Online-Kanälen zu, sodass sich die digitalen Player auch zu Multi-Channel-Konzepten vorwagen, ebenso wie die traditionellen stationären Anbieter heute zunehmend alle Kanäle bedienen.
Alle Unternehmen werden zu der Erkenntnis kommen, dass der optimale Einsatz des Kommunikationsbudgets dann erreicht wird, wenn die Grenzerträge der einzelnen Kanäle ausgeglichen sind. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn bei allen Instrumenten eine bestimmte Budgeterhöhung zu den gleichen Umsatzsteigerungen führt. Dies führt oft auch bei Online-Anbietern zu der Einsicht, dass für die Gewinnung von Neukunden auch Offline-Kanäle und eben auch Messen einen höheren Grenznutzen als Online-Kanäle liefern können, auch wenn die Messbarkeit der Wirkungen komplexer und zeitverzögerter als in der Online-Welt ist.
Geprüfte Daten – wie die der FKM – werden ja oft erst mit einer gewissen Zeitverzögerung zur Verfügung gestellt. Was ist für das Marketing wichtiger: schnelle Verfügbarkeit oder Vergleichbarkeit und Genauigkeit?
Validität – messe ich das Richtige? – und Reliabilität – messe ich das Richtige richtig? – stellen heute noch wichtige Anforderungen der Marketingforschung dar. Allerdings haben sich die Zeiten gewandelt und Schnelligkeit der Datenverfügbarkeit und Genauigkeit schließen sich nicht mehr aus. Sonst bräuchten wir uns nicht über autonomes Fahren unterhalten.
Deshalb sollten Organisationen wie die FKM eine möglichst schnelle Bereitstellung ihrer Daten anstreben, bevor die potentiellen Nutzer auf andere Quellen zurückgreifen. Das sollte für Basisdaten wie auch für einfache Besucherstrukturen gelten. Grundsätzlich werden aber Institutionen, die Vergleichbarkeit und Zuverlässigkeit von Daten sicherstellen, ihre Bedeutung behalten. Wichtig wäre aber auch, dass Messeveranstalter Daten über Motive, Bedürfnisse und Einstellungen von Messebesuchern erheben und zugänglich machen. Denn diese Daten lassen sich häufig nicht automatisiert durch Beobachtungen des Verhaltens ermitteln. Auch in der Wissenschaft sind wir gefordert, immer wieder nach Begründungen des Verhaltens zu fragen.
Stehen wir vor einer Festivalisierung der Messewirtschaft, wie manche Experten glauben? Für Maschinenbaumessen scheint das im Moment schwer vorstellbar. Ist dieser Trend nicht eher ein Thema für ganz bestimmte Branchen?
Hier ist ein differenzierter Blick angebracht. Die Verbindung von Messeauftritten mit von Ausstellern oder Messeveranstaltern propagierten Großevents und Sonderveranstaltungen beobachten wir schon seit längerem. Interessant ist dabei, dass diese Veranstaltungen zunehmend außerhalb von Messegeländen stattfinden. Früher hatten Messen, auf denen Aussteller Produktinnovationen vorstellten, generell einen Highlight-Charakter. Heute bleiben diese Höhepunkte in einer Reihe von Branchen aus, denn die globale Wettbewerbsarena zwingt Unternehmen dazu, mit den Produkteinführungen nicht bis zur nächsten Messe zu warten. Weiterhin werden alle kognitiven Prozesse der Anbieterwahl in Zukunft immer stärker automatisiert und online basiert stattfinden. Gerade deshalb sehe ich in der Zukunft eine zunehmende Relevanz aller Live Communication-Instrumente, solange sie die Besonderheit des „Live“ richtig interpretieren.
Auf diesen Trend haben wir auch schon 2012 in den für den AUMA entwickelten Szenarienanalysen hingewiesen. Wenn wir an die Messe der Zukunft denken, so wird hier der Anteil des persönlichen, emotionalen und multisensualen Erlebens zunehmen, weil andere Kanäle die eher kognitiven Prozesse übernehmen. Daher werden Messeveranstalter wie auch Aussteller sich intensiver mit dem multisensualen Live-Charakter ihres Auftritts auseinandersetzen müssen. Die traditionellen Branchengrenzen werden sich in den nächsten Jahren auflösen und B2B- und B2C-Märkte werden sich stärker miteinander verbinden. Da gleichzeitig die Konsumenten und Führungskräfte der neuen Generation verstärkt mit dem Event- und Festivalcharakter sozialisiert wurden, lässt sich diese Entwicklung nicht auf bestimmte Branchen beschränken.
Eines ist jedoch wichtig: Letztlich müssen diese Ausformungen von Messen einen Nutzen für Aussteller und Besucher schaffen. Denn eine Festivalisierung ohne Bezug zu den zentralen Aussteller- und Besucherbedürfnissen wird ins Leere laufen. Die Kunst liegt darin, eine Atmosphäre für die Live Communication zu schaffen, die auch Wertschöpfung und Differenzierung schafft. Leicht gesagt, aber keine Selbstverständlichkeit.
Ergänzen Sie bitte folgenden Satz: Messen werden im digitalen Zeitalter dann eine wichtige Rolle spielen …
… wenn sie über die differenzierende Kraft der multisensualen Live Communication einen nachhaltigen Nutzen für Besucher und Aussteller schaffen. Die Digitalisierung sollte dabei vor, während und nach der Messe eingesetzt werden, um möglichst viel Zeit für den wertvollen Live-Kontakt zu schaffen.
Prof. Dr. Manfred Kirchgeorg ist Inhaber des SVI-Stiftungslehrstuhls für Marketing, insbesondere E-Commerce und Crossmediales Management an der HHL Leipzig Graduate School of Management.
Dieses Interview wurde veröffentlicht im Newsletter FKM Knowhow 02/2018 und dazu noch folgende Themen:
- Messen bieten Kontakte zu Berufsanfängern – Acht Prozent der Fachbesucher sind Studenten oder Fachschüler
- Wie funktioniert der Besucherstrukturtest?
- Planungsdaten für 2019 – Kennzahlen zu 178 deutschen Messen im FKM-Bericht 2017